Juli 28, 2009

Content-Piraten im Internet

Haben Sie schon davon gehört, dass reiche Russen in ihrer Freizeit gerne Piraten jagen? Dieser Bericht erzählt, wie es zu solchen Meldungen kommt - und was uns das über Online-Marketing und Blogs erzählt.

Aktueller Content im Internet wird von Millionen Menschen gemacht. Da so viele Leute daran arbeiten, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass richtige Meldungen unterstützt und falsche Meldungen früher oder später als solche erkannt werden. Aber ist das wirklich so? Wie viel stimmt eigentlich von dem, was Blogger in die Welt setzen?

Das Internet macht Information leichter verfügbar, leichter reporduzierbar, aber gewinnen wir dadurch auch wirklich mehr Information?

Sagen Blogger immer alles nach?
Der Economist beschrieb vergangene Woche Städte in England, denen 2009 die einzige Lokalzeitung abhanden kam. Nicht dass diese Zeitungen besonders kritisch gewesen wären, summiert der Economist die Meinung von Politikern, PR-Leuten, Lesern, und Kulturschaffenden, aber diese Zeitungen hätten eine wichtige Funktion gehabt: Sie berichteten von dem, was sie vorher recherchiert hatten. Sie erschafften also Original-Content. Jetzt, da nur noch Blogger in diesen Städten berichten, findet Recherche kaum noch statt. Die Pressekonferenzen sind leer, die Schulaufführungen werden nicht mehr rezensiert. Dem Bericht zufolge kopierten also die Blogger das, was sie in der Zeitung gelesen hatten und bereiteten es nur neu auf. Das gibt es natürlich auch umgekehrt. Angeblich existieren Zeitungen in den USA, die journalistisch in Indien gemacht werden. Die Inder schreiben also lokale US-Blogs ab, um daraus Zeitungen zu machen. Ich vermute, dass es sich dabei um ein Kunstprojekt von Globalisierungsgegenern handelt.

Piratenjagd
Ich arbeite als Journalist bei der Online-Ausgabe einer Wirtschaftstageszeitung. Wir machten in den vergangenen zwei Monaten unsere eigene Erfahrung zum Thema Online-Reproduzierbarkeit. Einer unserer regelmäßigen Informaten, ein Pressedienst aus Deutschland, der Recherchen zum Thema Wirtschaftskriminalität macht, schickte uns einen Beitrag. Darin ging es um einen Reiseveranstalter, der Kreuzfahrten an die Küsten von Somalia anbietet. Wer teilnimmt, wird gegen Gebühr scharf bewaffnet und darf sich dann nach Herzenslust gegen die Piraten wehren. Zehn Dollar für eine Kalaschnikov 100 Dollar für den Granatwerfer. Reiche Russen dürften darauf abfahren, hieß es. Ein Re-Check der Quelle ergab für uns, dass dieser Bericht sehr unwahrscheinlich, aber nicht unbedingt falsch sei.Im Internet fanden wir keine dementsprechende Berichterstattung. Als Online-Medium stellen wir auch Fremd-Berichte - so wir die Erlaubnis dazu bekommen - auf unser Portal - solange die Quelle / die Autorenschaft serös ist - und der Beitrag zur Zielgruppe passt. Allerdings erschien uns diese Meldung so skurril, dass wir entschieden, sie in einer Spaß-Rubrik zu publizieren. Da wir die Meldung nicht verifizieren konnten, publizierten wir sie unter dem Namen des deutschen Wirtschaftsdienstes - als Gastbeitrag. Bereits in der Nacht explodierten die Zugriffe. Ein weiterer Anruf bei den Autoren des Berichtes bestärkte uns in der Annahme, dass es sich um Satire handle, wir kennzeichneten den Bericht dementsprechend noch einmal deutlicher als Satire. Nun machte die Meldung auf Twitter und Facebook die Runde . Stets mit dem Hinweis: Was glaubst du, ist das ein Scherz? Das interessante daran: Viele gaben nur den Tweet weiter, ohne die Meldung selbst zu lesen.
Dennoch verzeichneten wir rund 5000 Leser in der Stunde, in den Twitter-Charts kletterte der Bericht auf Nummer 3. Hunderte Blogs übernahmen die Meldung, dann übersetzte ein erster Blog den Bericht ins Englische, ohne jedoch den Zusatz mitzunehmen, dass es sich um Satire handle. Das tat seine Wirkung.

Drei Tage später hatten US-Agenturen die Meldung mitgenommen, sie beriefen sich auf einen Bericht der österreichischen Tageszeitung WirtschaftsBlatt - ohne zu erwähnen, dass es sich um einen Hoax handle. Dann nahmen US-TV-Sender auf ihren Online-Seiten die Meldung auf. Da half es auch nichts, dass wir mittlerweile den Bericht selbst übersetzt hatten und mit dickem Disclaimer darauf hinwiesen, dass alles ein Scherz sei.

Nun folgten russische Nachrichtenagenturen mit der Meldung, dass diese Reisen niemals aus Russland kommen würden, sondern, das sei ja klar, von US-Internetseiten. Der Bericht kam nach Japan und nach Australien. Drei Wochen später riefen in unserer Redaktion britische Boulevard-Zeitungen an, um sich nach der Adresse des Reiseveranstalters zu erkundigen. Eine deutsche Radiostation wollte wissen, wo die Reise zu buchen wäre. Hörer hätten beim Sender anrufen, um die Reise zu ordern.

Virales Marketing mit Nebenwirkung
Vier Wochen später schloss sich der Kreis wieder, die Meldung kam nach Österreich zurück, österreichische Zeitungen fragten bei uns an, woher wir den Bericht hätten.

Wenn das ganze ein Test gewesen wäre, hätten wir herausgefunden,
1.) dass die Online-Ausgaben von Print-Medien allein aufgrund der Tatsache, dass sie Printmütter haben, scheinbar hohe Glaubwürdigkeit besitzen.
2.) dass Twitter und Facebook mehr Einfluss haben, als alle klassischen Medien der Vergangenheit. Doch die Reduktion auf 160 Zeichen, lässt auch wesentliche Infos verschwinden.
3.) dass viele Blogger keine Re-Checks von Meldungen machen.
4.) dass kaum ein Printmedium - und auch nicht deren Online-Editionen - die Story aufgenommen haben, obwohl sie das gerne wollten. Weil diese Seiten den Re-Check gemacht hatten.

So wie Story von der Piratenjagd selbst, ist auch dieser Meta-Bericht nur oberflächlich betrachtet humorvoll. Darunter steckt ein tiefer Wandel in der Beziehung zwischen Kommunikatoren und Rezipienten. Wir sind offenbar noch nicht in der Lage, mit den veränderten Kommunikationshierarchien umzugehen. Wir schenken als Leser und User Vertrauen, wie wir es in der Vergangenheit taten, obwohl die journalistischen und ökonomischen Umstände der Nachrichtenproduktion sich geändert haben.

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